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BAG-Urteil zum Streit um Fortsetzungserkrankung: Warum die Vorlage einer AU nicht mehr alleine ausreicht

BAG-Urteil zu Fortsetzungserkrankung AU.
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Liegt eine neue Erkrankung oder eine Fortsetzungserkrankung vor? Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass Arbeitnehmer, die nach sechswöchiger Krankheit einen neuen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall geltend machen, ihre Vorerkrankungen offenlegen müssen. Informieren Sie sich über das Urteil und nutzen Sie unser Musterschreiben, um Ihren Mitarbeiter aufzufordern, seine Krankheitsgeschichte offen zu legen und seinen Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden.

Arbeitnehmer lehnt umfassende Offenlegung der Vorerkrankungen ab

Der BAG-Entscheidung (5 AZR 93/22) lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Kläger war bei der Beklagten in der Gepäckabfertigung tätig. Im Zeitraum von 2019 bis 2020 war er wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Für zehn Arbeitstage zwischen dem 18. August 2020 und dem 23. September 2020 beanspruchte er Entgeltfortzahlung. Die Beklagte verweigerte die Zahlung mit Verweis auf eine Fortsetzungserkrankung. Der Kläger legte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit Diagnoseschlüsseln vor, lehnte jedoch eine umfassende Offenlegung der Vorerkrankungen aus Datenschutzgründen ab. Das Landesarbeitsgericht wies die Klage ab, was durch das BAG bestätigt wurde.

„Rechte des wiederholt erkrankten Arbeitnehmers eingeschränkt“

Das BAG hat sich in seiner Entscheidung vom 18. Januar 2023 vor allem mit den Anforderungen an die Darlegungslast eines Arbeitnehmers im Streit über Fortsetzungserkrankungen nach § 3 Abs. 1 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) befasst.

§ 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG gewährt Arbeitnehmern Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen. Wird ein Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, verliert er nach § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit den Entgeltfortzahlungsanspruch für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nur dann nicht, wenn er

  1. vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war (Nr. 1) oder
  2. seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist (Nr. 2).


Vor Ablauf dieser Fristen entsteht ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch für die Dauer von sechs Wochen daher nur dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf einer anderen Krankheit beruht.

Die Regelung soll den Arbeitnehmer vor wirtschaftlicher Not schützen, begrenzt jedoch die Belastung des Arbeitgebers durch eine klar definierte Zumutbarkeitsgrenze. „Diese Regelungen sollen die wirtschaftliche Belastung der Arbeitgeber durch die Entgeltfortzahlungspflicht begrenzen. Es handelt sich um eine Einschränkung der Rechte des wiederholt erkrankten Arbeitnehmers, die auf einer besonderen Zumutbarkeitsregelung des Gesetzgebers beruht“, erklärt das BAG in seinem Urteil.

Nach sechs Wochen abgestufte Darlegungslast

Das BAG stellt klar, dass Arbeitnehmer eine abgestufte Darlegungslast trifft. Diese umfasst:

  • Erstvortrag: Zunächst muss der Arbeitnehmer – soweit sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dazu keine Angaben entnehmen lassen – darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hierzu kann er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen.
  • Erweiterter Vortrag: Bestreitet der Arbeitgeber, dass eine neue Krankheit vorliegt, obliegt es dem Arbeitnehmer, weiterführende Details vorzubringen. Diese sollen den Nachweis erbringen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt. „Er muss laienhaft bezogen auf den gesamten maßgeblichen Zeitraum schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden und die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden“, so das BAG. Denn erst ausgehend von diesem Vortrag sei es für den Arbeitgeber erst möglich, einen substantiierte Sachvortrag zu leisten.


Ein bloßer Verweis auf Diagnoseschlüssel (ICD-10) genügt laut BAG nicht, da eine Fortsetzungserkrankung auch bei unterschiedlicher Symptombeschreibung vorliegen kann, wenn diese auf dasselbe Grundleiden zurückzuführen ist.

Lese-Tipp: EuGH legt „berechtigtes Interesse“ nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO aus

Datenschutzrechtliche Abwägung

Der Kläger argumentierte, dass die Offenlegung seiner Gesundheitsdaten sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletze (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das BAG hielt den Eingriff allerdings für verhältnismäßig, da:

  • Der Eingriff einem legitimen Zweck dient, nämlich der materiell richtigen Entscheidung im Prozess.
  • Keine gleich effektiven Alternativen bestehen, die den Datenschutz weniger beeinträchtigen.
  • Die Offenlegung der Daten sowohl den Anspruch des Arbeitgebers auf rechtliches Gehör als auch die Justizgewährungspflicht wahrt.


Das BAG bestätigte auch die Zulässigkeit der Verarbeitung von Gesundheitsdaten nach Art. 9 Abs. 2 lit- f DSGVO, da sie zur Durchsetzung rechtlicher Ansprüche erforderlich ist. Die Verarbeitung erfolgt im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens und unterliegt strengen Anforderungen an Verhältnismäßigkeit und Datenschutz.

Konsequenzen für die Praxis

Arbeitgeberseite

Arbeitgeber können bei Zweifeln an einer Fortsetzungserkrankung eine detaillierte Offenlegung der Gesundheitsdaten verlangen. Dies stärkt ihre Position bei der Abwehr unberechtigter Ansprüche auf Entgeltfortzahlung.

Arbeitnehmerseite

Arbeitnehmer sollten sich bewusst sein, dass sie bei längerfristigen oder wiederholten Erkrankungen umfassend darlegungs- und beweispflichtig sind. Dies umfasst nicht nur die Vorlage von Diagnoseschlüsseln, sondern auch eine laienhafte Beschreibung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die Entbindung des behandelnden Arztes on der Schweigepflicht.

Das Urteil bestätigt die abgestufte Darlegungslast als verfassungskonform und stärkt den Grundsatz des rechtlichen Gehörs sowie die Prozessparität. Gleichzeitig gibt es klare Grenzen für den Datenschutz, wenn die Offenlegung von Gesundheitsdaten zur Wahrung materieller Rechte erforderlich ist.

Quelle: Urteil 5 AZR 93/22 des Bundesarbeitsgerichts vom 18. Januar 2023

Musterschreiben für Arbeitgeber zum erweiterten Vortrag

Nutzen Sie unser Musterschreiben, wenn Sie als Arbeitgeber von Ihrem Mitarbeiter einen erweiterten Vortrag fordern.

Betreff: Aufforderung zur Offenlegung der Krankengeschichte und Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht

Sehr geehrter Herr [Name des Arbeitnehmers],

wir nehmen Bezug auf Ihre wiederholten Krankmeldungen und die damit verbundenen Unsicherheiten in Bezug auf die rechtliche Einordnung dieser Erkrankungen. Uns ist nicht klar, ob die einzelnen Krankheitsfälle als Fortsetzungserkrankungen zu betrachten sind oder ob es sich um neue Erkrankungen handelt.

Gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und gestützt auf die Entscheidung, die Sie unter 5 AZR 93/22 – Das Bundesarbeitsgericht einsehen können, ist es in solchen Fällen erforderlich, dass der Arbeitnehmer zur Klärung beiträgt. Insbesondere betrifft dies die Offenlegung, ob und in welchem Umfang eine Fortsetzungserkrankung vorliegt.

Um diese Prüfung vornehmen zu können, bitten wir Sie, Ihren behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden und die relevanten medizinischen Unterlagen, die für die Beurteilung erforderlich sind, offenzulegen. Diese Dokumente sind notwendig, um sicherzustellen, dass die Entgeltfortzahlung korrekt gehandhabt wird und dass keine Benachteiligung für Sie oder das Unternehmen entsteht.

Bitte lassen Sie uns bis spätestens [Fristdatum einfügen] eine schriftliche Bestätigung zukommen, dass Sie der Entbindung Ihres Arztes von der Schweigepflicht zustimmen. Gleichzeitig bitten wir um die Übersendung der notwendigen Unterlagen zur weiteren Klärung.

Wir möchten betonen, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, die ausschließlich der Klärung Ihrer Ansprüche sowie der korrekten Anwendung gesetzlicher Regelungen dient. Sollten Sie Fragen hierzu haben oder Unterstützung benötigen, stehen wir Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,

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